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 Gespräche     
  Deutsche Oper am Rhein 21.01.2007 
Bild n/1096 Youri Vàmos
© Deutsche Oper am Rhein
An die Liebe glauben
Youri Vàmos kreiert den Ballettklassiker »Giselle«

Das Gespräch mit Youri Vàmos über die Neuproduktion des Balletts Giselle beginnt ganz ohne „Ouvertüre“ direkt beim Thema: „In dieser romantischen Geschichte steckt ein sehr ernstes Drama“. Davon ist der Ballettdirektor der Rheinoper überzeugt, auch wenn vielen das romantische Sujet eher harmlos erscheint.

„Sie sehen nicht,“ so Vàmos, „dass darin eigentlich eine tragische Wahrheit ausgesprochen wird. Es geht um Lüge und falsche Versprechung, um an das Ziel der eigenen erotischen Begierde zu gelangen. Das passiert tausendfach in der Welt und trifft auf Männer wie Frauen zu; die Konsequenz daraus - das schlechte Gewissen, das den Verführer oder die Verführerin später befällt - leider weitaus weniger.“

So gesehen ist die Geschichte des einfachen Bauernmädchens Giselle, das sich in Albrecht verliebt, unwissend, dass er ein Prinz und bereits verlobt ist, und später an dessen Liebesverrat zerbricht, kein künstliches Märchen mehr. „Jemanden täuschen, um ihn zu erobern, das bezeichnet nicht nur die Leichtfertigkeit eines Don Juan oder des Ballettprinzen Albrecht. Dass man jemanden begehrt ohne zu überlegen, ob man mit ihm dauerhaft zusammen sein will oder kann und ob nach dem kurzen Abenteuer nicht nur Scherben zurück bleiben werden, das ist eine sehr verbreitete menschliche Schwäche, die man allerdings nur ungern zugibt. Für mich hat die Geschichte nichts mit der sozialen Diskrepanz zwischen einem Bauernmädchen und einem Prinzen zu tun. Es geht ganz generell um Begehren und Verführen, um Liebe und Verlassenwerden, wie es zwischen den unterschiedlichsten Paaren vorkommen kann.“ Man könnte dem entgegen halten, dass die wenigsten derartigen Beziehungskonflikte damit enden, dass ein Partner daran zugrunde geht. Aber dafür hat Vàmos eine ganz einfache Erklärung: „Es muss die große Liebe sein, dann ist ein solch tragischer Ausgang vorstellbar. Wenn jemand nicht an die große Liebe glaubt, dann wird er Giselle nicht mögen. Er wird auch Romeo und Julia oder Othello nicht mögen. Aber er wird auch nicht ins Theater gehen.“

Die Proben zu Giselle haben im Dezember begonnen. Anders als andere Ballettklassiker wie Schwanensee oder Dornröschen, die Youri Vàmos bereits mehrfach mit verschiedenen Ballettcompagnien erarbeitet hat, bringt er Giselle zum ersten Mal auf die Bühne. „Als junger Choreograph wollte ich dieses Stück machen und hatte ein Idee dazu. Dann aber habe ich die Giselle von Mats Ek gesehen, die so überzeugend war, dass sie mir den Spaß an meiner Idee verdorben hat. Ich war mir sicher, dass ich mich nie mehr mit diesem Ballett beschäftigen werde. Jetzt, gut zwanzig Jahre später, als ich überlegt habe, Giselle doch für die Rheinopercompagnie zu erarbeiten, fand ich unter meinen Notizen eine Raumidee, die mich schon lange beschäftigt hat. Es ist das Bild von einem einst sehr prachtvollem Raum, der zerstört, ausgeraubt, abgebrannt ist. Ich habe mich an Filme über den amerikanischen Bürgerkrieg erinnert, wo verletzte Soldaten und Kämpfer in den Herrschaftsräumen einer Farmervilla versorgt werden. In einem solchen provisorischen Lazarett habe ich meine Giselle-Figuren gesehen – Giselle als eine durch Albrechts Untreue verletzte und gebrochene Frau, Albrecht als einen durch den Krieg verletzten Soldaten, der sich in seinen Fiebervisionen an das Mädchen von einst erinnert und sie in einem romantischen Traumbild als Wilis erlebt.“

Aus der ersten bildlichen Inspiration hat der „Geschichtenerzähler“ Vàmos seine Giselle-Version kreiert, die dem Ballettklassiker jedoch nicht vollständig untreu wird. „Für mich ist es wichtig, ein klassisches Ballett so zu erzählen, dass es möglich bleibt, bestimmte traditionelle Bilder zu integrieren – Bilder, die so gut sind, dass sie wie ein Evergreen erscheinen sollten. Giselle bietet diesbezüglich nicht so viel wie etwa Schwanensee, aber es gibt im 2. Akt einige sehr schöne Figuren und Formationen, die ich unbedingt zitieren möchte.“

Vàmos glaubt an die Qualität dieser Bilder, die sich durch die ungebrochene Aufführungstradition seit 1841 bestätigt und von der auch eine Musik profitiert, deren Wert schon bei Zeitgenossen strittig war. Richard Wagner sah darin die „artige Musik“ eines Komponisten, „der sich in beinahe ebenso kurzer Zeit zu Tode komponiert hat, wie das Opfer der Wilis sich zu Tode tanzt.“ Nicht ganz so ungnädig urteilt Vàmos über Adams Musik: „Unter den Ballettkompositionen ist Giselle für mich eindeutig seine beste Musik. Alle anderen Werke wie Le Corsaire oder Griseldis sind nicht annähernd von dieser Qualität. Hier hat fast jede Nummer Schönheit und Raffinesse und entspricht dem Sujet. Natürlich ist sie nach rein musikalischen Maßstäben keine Offenbarung. Aber als Tänzer habe ich diese Musik sehr geliebt. Für Tänzer ist sie ungemein wohltuend und beflügelnd. Das heißt nicht unbedingt, dass sie einen Choreographen besonders inspiriert. Ich habe die Musik gehört und die Aufnahme dann wieder zur Seite gelegt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dazu etwas zu schaffen. Aber dann war plötzlich die Idee zu meiner Giselle-Geschichte da, und die ging mit Adams Musik auf. Je mehr ich mich in mein Sujet vertieft habe, um so mehr begann ich, Adams Musik wieder zu mögen.“

Durch das Höchstmaß an tänzerischer Virtuosität, technischer Leichtigkeit sowie darstellerischer Expressivität und Wandelbarkeit, die das Stück von der Titelfigur verlangt, ist Giselle ein Glanzstück für jede Tänzerin. Legendäre Primaballerinen wie Anna Pawlowa, Galina Ulanowa oder Margot Fonteyn haben damit Triumphe gefeiert. Doch Youri Vàmos geht nicht von einer bestimmten Besetzung aus, sondern hat zunächst ausschließlich die Bühnenfiguren vor Augen. „Giselle ist eine vollkommen andere Rolle als Julia oder die Odette in Schwanensee. Man muss Tänzern immer wieder deutlich machen, dass jede Figur einen eigenen Charakter hat. Julia ist nicht fragil, sie ist ein starkes junges Mädchen mit Entschlusskraft. Ganz anders als Giselle, die sehr scheu und zerbrechlich ist. Bei uns wird Kaori Morito diese Rolle tanzen, eine zarte und doch ausdrucksstarke Tänzerin, der ich ihre Figur sicher nicht erklären muss.“ Daraus ergibt sich die Frage, wie Vàmos mit seiner Compagnie ein solches neues Ballettprojekt erarbeitet.
„Ich erkläre den Tänzern meine Idee, dann lasse ich sie etwas ausprobieren, sehe ihnen dabei zu und greife dann ein, um meiner Idee die richtige Form zu geben. Andere Choreographen lassen ihre Tänzer zunächst mehr improvisieren. Das ist eine Phase, die ich mit mir allein im Ballettsaal durchlebe. Erst wenn ich für meine Idee das choreographische Skelett gefunden habe, beginne ich, mit den Tänzern zu arbeiten. Dann ändere ich manchmal etwas, aber sehr selten. Wenn etwas nicht stimmt, dann werde ich auch von meinen Mitarbeitern darauf hingewiesen. Diesen kritischen Blick verlange ich von ihnen, denn meine Choreographien sind nicht „die heilige Schrift“. Aber in der Arbeit mit den Tänzern bin ich unnachgiebig. Ich fordere immer mehr von ihnen, als für sie in tänzerischem Sinn bequem ist. Erst wenn man diese Bequemlichkeit überwindet, entsteht wirkliche Ausdruckskraft. Diese tänzerische Ausdruckskraft und eine gute Idee für ein Ballett sind notwendig, um das Publikum einen ganzen Abend lang zu fesseln. Das ist es, was ich mit meiner Arbeit erreichen möchte.“

(Das Gespräch führte Dr. Hella Bartnig.)

  Sonstige Informationen

Premiere am 03. Februar 2007 in Duisburg.

Quelle: Deutsche Oper am Rhein




Bild
 Saarbrücken, Saarländisches Staatstheater
© Björn Hickmann / Stage Picture



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