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  Staatsoper Wien 12.09.2006 
Bild m/p11 Leo Nucci
© Staatsoper GmbH / Axel Zeininger
Oper ist eine verrückte Sache

Ein Interview mit Leo Nucci in gedruckter Form wiederzugeben ist alles andere als leicht. Denn man sitzt keinem gewöhnlichen Gesprächspartner gegenüber, der sich mit einem normalen Dialog begnügen würde, sondern einem leidenschaftlichen Mann, der von einer unendlich großen Liebe zur Musik beseelt ist, die ihn immer wieder so sehr mitreißt, daß ihm Worte allein nicht genügen, um das, was er sagen möchte, auch auszudrücken. Immer wieder singt er einzelne Phrasen vor, wie diese seiner Meinung nach gestaltet werden müßten, um den Willen des Komponisten exakt wiederzugeben. Dazwischen ergreift er aber auch mal eine Serviette, um darauf eine Begleitfigur des Orchesters aus Verdis La traviata aufzuschreiben, die – sofern sie ein Dirigent richtig ausführen läßt – eben nicht auf das so oft geschmähte Um-ta-ta hinausläuft, sondern Violettas bangen Herzschlag wiedergibt. Und einmal springt er sogar auf, um in der Kantine der Wiener Staatsoper vorzumachen, welcher Rhythmus sich ergibt, wenn vier Männer einen Sarg im gemessen Kondukt auf ihren Schultern tragen – ein Rhythmus, der im letzten Bild der Traviata das Sterben Violettas einleitet. Auf solche Zusammenhänge in einer Partitur zu stoßen und sich ihrer bewußt zu werden, löst bei Leo Nucci eine fast kindliche Begeisterung aus, die er auch versprüht, wenn er im Interview davon erzählt. Und wenn er im Laufe des Gesprächs immer wieder beteuert, nicht der Karriere wegen würde er singen, sondern weil ihn die Musik so sehr fasziniert, glaubt man ihm das aufs Wort – ganz im Gegensatz zu etlichen seiner Kollegen, die sich mit ähnlichen Aussagen oft nur in ein günstiges Licht stellen wollen.

„Singen“, sagt Leo Nucci, der 1942 in Castiglione de Pepoli nahe Bologna geboren wurde, „war für mich und meine Familie immer etwas ganz Natürliches. Es gab bei uns daheim niemanden, der nicht gesungen oder musiziert hätte. Ich erinnere mich noch gut an meine Großmutter. Von ihr habe ich zum ersten Mal viele der unsterblichen Melodien Verdis gehört, die sie so gerne vor sich hingesungen hat. Auch ich habe früh zu singen begonnen, ohne dabei schon an eine professionelle Sängerlaufbahn zu denken.“ Im Gegenteil, Leo Nucci erlernte zunächst den Beruf des Autoschlossers, den er acht Jahre lang ausübte. Heute noch mache es ihm riesigen Spaß, einen Motor zu reparieren oder andere handwerkliche Tätigkeiten auszuführen und zeigt dafür als Beweis seine Hände vor, an denen sich noch frische Spuren manueller Anstrengungen finden. Trotzdem reizte es den jungen Autoschlosser, seine Stimme ausbilden zu lassen. Als im Jahr 1957 der Gesangspädagoge Mario Bigazzi allwöchentlich Nuccis Heimatdorf aufsuchte, um dort Stunden zu geben, nahm auch er bei ihm Unterricht. Von seinem Lehrer wurde er in der Ansicht bestärkt, er wäre ein Tenor, ein Irrtum, den erst Maestro Marchesi aufklärte, ein Gesangspädagoge in Bologna, zu dem ihn Mario Bigazzi eines Tages mitnahm. „Marchesi sagte, ich sei ein Bariton, genauer, ein Bariton brillante, ein Fach, für das ich aber noch zu jung wäre. Daher riet er mir, erst in zwei Jahren wiederzukommen“ – was Leo Nucci auch beherzigte. 1959 nahm er den Unterricht bei Maestro Marchesi auf, sechs Jahre später erlaubte ihm sein Lehrer, erstmals an einem Wettbewerb teilzunehmen, den er prompt gewann, 1967 schließlich debütierte Leo Nucci in Spoletto als Figaro in Rossinis Il barbieri di Siviglia.

Es war dies eine Zeit, in der das internationale Opernleben reich an erstklassigen Baritonen gewesen ist. Ettore Bastianini, Aldo Protti, Tito Gobbi, Giuseppe Taddei, Robert Merrill, der junge Piero Cappuccilli – all das sind glanzvolle Namen, die im Pantheon der jüngeren Operngeschichte einen festen Platz einnehmen. Leo Nucci aber ist heute nahezu allein auf weiter Flur, neben ihm gibt es kaum noch Vertreter seines Fachs, die auf vergleichbar hohem Niveau stimmliche Schönheit und perfekte Gesangskunst mit einem Höchstmaß an interpretatorischer Intelligenz verbinden. Die Frage, warum es heutzutage so wenige erstklassige Baritone gibt, entlockt Leo Nucci zunächst einen tiefen Seufzer. Erst nach langem Überlegen antwortet er: „Ich glaube nicht, daß es heutzutage weniger talentierte junge Sänger und weniger schöne Stimmen gibt als früher. Das Problem liegt anderswo. Kaum hat ein junger Sänger erfolgreich debütiert, bekommt er bereits Verträge für die nächsten zehn Jahre. Oft hat er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht einmal seine stimmliche Ausbildung schon wirklich abgeschlossen. Das rächt sich, und nach zehn Jahren ist es mit der so hoffnungsvoll begonnenen Karriere wieder vorbei. Es fehlt das Fundament. Als ich bei Maestro Marchesi studierte, habe ich fünf Jahre lang nichts anderes als Vokalisen gesungen. Erst im sechsten Jahr meines Unterrichts habe ich mir einzelne Arien erarbeitet. Ich bin meinem Lehrer noch heute dankbar für die harte Schule, in die er mich nahm und ich verehre ihn wie meinen Großvater.“

Trotzdem war sich Leo Nucci, selbst nachdem er Wettbewerbe gewonnen und bereits als Solist aufgetreten war, noch immer nicht hundertprozentig sicher, ob er wirklich eine Sololaufbahn einschlagen sollte. Um Zeit zu gewinnen, aber auch, um weiter zu lernen, trat er daher in den Chor der Mailänder Scala ein, dem er fünf Jahre lang angehörte. „Das war für mich eine sehr wichtige Periode. Ich habe viele wunderbare Sänger aus unmittelbarer Nähe hören können und davon für meine eigene Entwicklung stark profitiert.“ Nachdem er aber 1973 den Internationalen Viotti-Wettbewerb gewonnen hatte, versuchte er ein Comeback als Solist, wobei er neben dem Rossinischen Figaro auch schon seine andere Glanzrolle im Repertoire hatte, Verdis Rigoletto, den er mit dem Gesangspädagogen Ottaviano Bizzarri erarbeiten konnte. Das Comeback verlief erfolgreich und 1977 kehrte Leo Nucci schließlich auf die Bühne der Mailänder Scala zurück, nun aber nicht mehr im Chor, sondern als Solist. Erfolgreich debütiert er als Figaro, seit damals zählt das Haus zu seinen zentralen Wirkungsstätten. Der internationale Durchbruch gelang dem Bariton ein Jahr später, als er an der Covent Garden Opera in London kurzfristig einen erkrankten Kollegen in Verdis Luisa Miller ersetzte. Schon im folgenden Jahr debütierte er als Figaro an der Wiener Staatsoper, 1980 in Verdis Un ballo in maschera an der Metropolitan Opera in New York – eine glanzvolle Laufbahn nahm ihren Lauf...

Diese brachte Leo Nucci mit vielen bedeutenden Dirigenten in Kontakt. Wie er betont, wollte jeder von ihnen, der einmal mit ihm zusammengearbeitet hatte, wieder mit ihm musizieren. „Auch Herbert von Karajan, unter dessen Leitung ich Un ballo in maschera für CD aufgenommen hatte. Es sollten noch weitere Projekte folgen, doch sein Tod hat diese Pläne leider vereitelt.“ Zu den Pultgrößen, mit denen Leo Nucci gemeinsam auftrat, zählen Claudio Abbado, Riccardo Chailly, Carlo Maria Giulini, James Levine, Lorin Maazel, Zubin Mehta und Riccardo Muti. Eine ganz besonders enge künstlerische Partnerschaft aber verband ihn mit Sir Georg Solti, der einmal, anläßlich einer CD-Präsentation in London, einem kleinen Kreis von Journalisten anvertraute, besonders glücklich darüber zu sein, daß ihn das Schicksal mit Leo Nucci zusammengeführt hätte, den er als einen der bedeutendsten Sänger der Gegenwart schätze und verehre. „Auch für mich zählt die Begegnung mit diesem großen Dirigenten zu den wunderbarsten Fügungen meines Lebens“, erklärt der Bariton. „Als ich in Budapest sein Grab aufsuchte – er wurde dort unmittelbar neben Béla Bartók beigesetzt – hat mich das sehr bewegt.“

Leo Nuccis Erfolg basiert nicht nur auf seinen außergewöhnlichen stimmlichen Qualitäten, es hat auch mit seinem großen darstellerischen Talent zu tun. So brilliert er nicht nur in ernsten Rollen, etwa als verzweifelter Rigoletto, als ein in seiner Herrsucht hemmungslos alle Schranken übersteigender Nabucco, als leidenschaftlicher Simon Boccangera oder als getriebener Macbeth, er kann auch ungemein komisch sein, etwa als Gianni Schicchi, mit dem er nicht zuletzt an der Wiener Staatsoper Triumphe feierte. Was auf der Bühne jedoch so spontan und mitreißend wirkt, ist bei ihm nie das Ergebnis eines unreflektierten Aus-dem Bauch-Heraus-Spielens, sondern Frucht einer gründlichen Vertiefung in eine Rolle. „Den Figaro zum Beispiel nur als wirbelndes Energiebündel auf die Bühne zu stellen, wäre zu wenig“, erklärt der Bariton. „Rossini wollte eine Art Figaro napoleone, also einen, der in den entscheidenden Momenten genau sagt, was zu tun ist.“ Und wieder läßt Leo Nucci der Erklärung sofort das Beispiel folgen, indem er jene Stelle vorsingt, in der Figaro dem Grafen Almaviva nicht einfach nur vorschlägt, sondern ihm geradezu vorschreibt, sich als Soldat verkleidet in Bartolos Haus einzuschleichen.

An der Wiener Staatsoper, an der Leo Nucci knapp 200 Mal aufgetreten ist, die ihn 1996 zum Kammersänger und 2004 zum Ehrenmitglied ernannte, stellt sich der Bariton im September 2006 in einer neuen Partie vor. In der Wiederaufnahme von I vespri siciliani wird er erstmals in Wien den Guido di Monfort singen. Diese Oper Verdis hat es nie zu einer vergleichbaren Popularität wie Aida,Rigoletto oder La traviata gebracht. „Ich kann das bis zu einem gewissen Grad verstehen, weil die Oper nicht von gleichbleibend hoher Qualität ist“, meint Leo Nucci. „Aber manches darin zählt zum Besten, was Verdi geschrieben hat. Schon allein die Sinfonia ist ein Meisterwerk. Sie ist nicht einfach ein verlängertes Präludium, sondern eine echte Ouvertüre.“
Verdi steht im Zentrum von Leo Nuccis Repertoire, dessen Musik er ganz besonders liebt. Trotzdem differenziert er, was die einzelnen Rollen anlangt: „Ein Posa ist wundervoll zu singen, keine Frage. Doch …“ und seine Stimme nimmt jenen bedeutungsvollen Klang an, mit dem er einer Aussage besonderen Nachdruck verleiht, „… ein Rigoletto oder Nabucco, ein Luna oder ein René Ankarström, das ist nochmals eine andere Welt. Das sind Partien, die in ihrer Tessitura fast schon einem Tenor nahe kommen.“
Interessanterweise hat Leo Nucci, der brillante Barbier, so gut wie nie Mozart gesungen. „Der Graf im Figaro oder der Guglielmo hätten mich schon gereizt. Dazu ist es aber leider nie gekommen und jetzt ist es dafür zu spät. In Konzerten singe ich aber manchmal die Arie des Figaro aus dem letzten Akt.“ Und wie ist sein Verhältnis zu Wagner? „Als Melot in Tristan und Isolde bin ich einmal in Spoleto aufgetreten und in Konzerten greife ich manchmal auf Wolframs Lied an den Abendstern aus Tannhäuser zurück. Die romantischen Opern Wagners wären für mich sicherlich kein Problem, da sie stilistisch in etwa dieselben Anforderungen an einen Sänger stellen, wie die italienischen Belcanto-Opern. In seinen späteren Musikdramen jedoch geht Wagner auf eine ganz spezielle Art und Weise mit dem Text um, die sich mit meiner Art zu singen nur schwer vereinbaren läßt. Daher lasse ich davon die Finger.“
Rund 75 Mal steht Leo Nucci pro Saison auf einer Opernbühne oder auf einem Konzertpodium. „Vielleicht ist das mehr, als andere Kollegen tun, aber ich liebe das Singen. Es ist mein Leben und es gibt für mich nichts Schöneres, als vor dem Publikum zu stehen, um diesem mit den großen Meisterwerken der Musik Freude zu bereiten.“ Diese Freude schöpft Leo Nucci selbst aus der fortwährenden Beschäftigung mit den Partituren, wobei er immer wieder Neues entdeckt und sich dabei auch selbst weiterentwickelt. „Am Beginn meiner Laufbahn wollte ich intellektuell alles selbst kontrollieren. Schießlich aber wurde mir klar, daß sehr viel auch von den Partnern auf der Bühne abhängt. Auf sie muß man reagieren und es ist für mich jedes Mal wieder ein besonderes Glücksgefühl, wenn sich dabei eine besondere Form der Interaktion einstellt.“ Das Augenmerk auf die Partner hat noch einen anderen Vorteil: Es beugt Routine vor, die unvereinbar ist mit jedem echten künstlerischen Anspruch. Auch Leo Nucci sieht das so: „Routine würde für mich das Ende bedeuten. Das wäre Erstarrung. Ich aber lebe, verändere mich mit jedem Tag, lerne ständig hinzu. Und all meine Erfahrung möchte ich ganz in den Dienst der großen Komponisten stellen. Auf der Bühne möchte ich nicht Leo Nucci sein, sondern die Figur, die mir an diesem Abend anvertraut wurde, sei dies nun Rigoletto, Macbeth oder irgendeine andere Partie.“ Und er ergänzt: „Oper ist eine verrückte Sache, zugleich aber auch sehr wahr, weil es in ihr um Gefühle und Emotionen geht. Diese sind manchmal unberechenbar, deswegen sind sie aber um nichts weniger wirklich.“
Peter Blaha

Quelle: pro:log | Wiener Staatsoper, http://www.wiener-staatsoper.at




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 Frankfurt am Main, Alte Oper
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