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 Gespräche     
  Kammerorchester Basel 01.11.2006 
Bild m/50 Julia Fischer
© Kammerorchester Basel
Menuhin war einer der großen Künstler, die ich getroffen habe.

Teresa Pieschacón: Sie strahlen einen unbändigen Willen aus. Woher nehmen Sie als 23 Jährige diese Stärke?

Julia Fischer: Vielleicht liegt es an der Erziehung besonders meiner Mutter. Sie hasst es, wenn einer jeden Tag die Meinung ändert, um anderen zu gefallen; eben das, was man heute überall antrifft. Man durfte bei ihr nicht nur einfach den Mund aufmachen und etwas sagen. Man musste argumentieren.

Zu einer eigenen Meinung muss man erst einmal dazu erzogen werden.

Absolut. Es wäre schön, wenn dies auch in der Schule so wäre. Es gibt Lehrer, bei denen kann man in der Deutschklausur alle Mögliche sagen kann, solange man es belegen kann. Dann gibt es aber auch Lehrer, bei denen man nur das wiedergibt, was im Unterricht besprochen wurde. Das ist nicht unbedingt zu empfehlen. Ein junger Mensch soll allerdings auch etwas Falsches sagen und tun dürfen. Ich hatte ganz große Panik, als ich anfing mit dem Konzertieren. Das Drama brach aus, als ich zehn Jahre alt war, im Steigenberger Hotel landete, beim Essen mit drei Gabeln und vier Messern. Ich war am Boden zerstört, als alle sagten, sie könnten erst anfangen, wenn die Künstlerin anfängt. (Lachen). Meine Mutter hat mich gerettet. Sie sagte mir: ‚Mädchen Du darfst fragen‘.

Ihre Mutter, die Musikerin ist, stammt aus der Slowakei …

und mein Vater aus der DDR, der Oberlausitz. Er lernte meine Mutter in Prag kennen. 1972 waren sie beide fertig mit dem Studium und beschlossen in den Westen zu kommen. Meine Mutter floh über Jugoslawien. Mein Vater hat mit ein paar Stempeln das System mit den eigenen Waffen geschlagen. Wichtig war für meine Erziehung, dass meine Eltern im kommunistischen System aufgewachsen sind. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht davon erfahren habe, ich habe das ganze System in irgendeiner Form miterlebt, und nicht nur die negativen Seiten. Natürlich war es ein menschenverachtendes System, doch im Hinblick auf die Musikausbildung war es hervorragend. Meine Mutter hat eine exzellente Ausbildung bekommen.

Ihr Vater ist Mathematiker. Hat auch dies Sie geprägt?

Heute ist er Unternehmensberater, aber er liebt die Musik. Mein Bruder und ich sind beiderlei Richtung erzogen worden, sowohl mathematisch als auch musikalisch. Mich hat die abstrakte Welt der Mathematik immer sehr gereizt. Während Musik im emotionalen Sinne abstrakt ist, ist die Mathematik es im intellektuellen Sinne. Sie haben miteinander sehr viel zu tun.

Fast mathematisch strukturiert ist auch Ihr Tag ...

Mit dreizehn hatte ich schon zwanzig Konzerte im Jahr und musste sehr schnell lernen, mit meiner Zeit zu wirtschaften. Fünf Stunden Schule, eine halbe Stunde für die Hausaufgaben, wenn ich sehr gut war, zwei Stunden für das Essen und schlafen musste ich ja auch noch. Eine Zeit lang bin ich um Viertel vor Sechs aufgestanden und habe noch vor der Schule Geige geübt. Mein Vater hat mich in den Keller verbannt, er wollte schlafen. Man steht im Dienste der Musik, so wie andere ins Kloster gehen und im Dienste des Glaubens stehen. Ich habe nie gezweifelt an meinem Beruf. Es ging noch weiter. Ich war immer ein Eiskunstfan. Mit acht habe ich mir überlegt, aufs Eis zu gehen. Aber mir war klar, wenn ich damit anfangen würde, ich die gleiche Hingabe verspüren würde wie mit der Musik. Ich hätte mich entscheiden müssen. Deshalb habe ich nicht damit angefangen.

Wie haben Freunde reagiert? Sie sind eine junge Frau, die sich auch mal verliebt ...

Ich hatte immer sehr utopische Lieben. Mit dreizehn war ich wahnsinnig in Kissin verliebt. Dann in Vengerow. Meine ganz große Liebe war Glenn Gould. Zu akzeptieren, dass er tot war, war für mich in absolutes Desaster.

Sie sagen, Sie nehmen 80% der Kritik nicht ernst ...

Es gibt zuviel Lob, zuwenig fundierte Kritik, zuwenig wirklich gute Autoren. Das kann manchmal sehr Amüsant sein. Als ich etwa zehn war, bekam ich gute Kritiken. Dann mit etwa dreizehn kam die Zeit, wo man alles in Frage stellte, mit sechzehn war es eigentlich egal, wie man spielte, man bekam immer eine schlechte Kritik. Es gibt Menschen, deren Kritik man ernst nehmen muss, aber auch andere, deren Kritik nicht wichtig ist.

Als junges Mädchen begegneten Sie Yehudi Menuhin ...

Menuhin war einer der großen Künstler, die ich getroffen habe. Er sagte mir vieles, womit ich damals nicht viel hätte anfangen können. Ich habe mir trotzdem jeden Kommentar von ihm aufgeschrieben Und natürlich alles wieder vergessen. Jahre später habe ich mir diese Kommentare wieder angeschaut. Heute kann ich sehr viel damit anfangen.

Hat er Sie geprägt hinsichtlich Ihrer Interpretation des Violinkonzertes von Elgar, das Menuhin 1932 selbst unter der Leitung des Komponisten einspielte?

Das Lustige an der Aufnahme ist, dass sie ja gar nicht zusammen sind und ein bisschen Chaos Herrscht. Menuhin war damals sechzehn, er hat seine eigene Interpretation und Elgar auch seine. Im Laufe der Aufnahme wird es immer besser. Man soll Respekt vor einem Komponisten haben, aber er ist natürlich nicht unfehlbar in seiner Interpretation, oder in dem, wie er etwas notiert. Und man sollte den Hintergrund eines Komponisten kennen. Ein piano oder ein dolce bei Brahms ist etwas anderes als bei Beethoven. Die Begriffe hat man einem Kind in fünf Minuten beigebracht, doch die Ausbildung sollte daraus bestehen, dass ein Kind Noten wirklich „lesen“ lernt. In der Germanistik muss man ja auch lernen, ein Gedicht zu lesen: warum ist hier ein Komma, warum dort ein Punkt. Und genau dasselbe gilt für die Musik. Die Frage ist nicht, was steht da, sondern warum? Also nicht: da ist ein Legatobogen, sondern, warum ist einer da.

Ist es hilfreich, wenn der Komponist das betreffende Instrument spielt? Sibelius, dessen Konzert Sie auch in Ihrem Repertoire haben, war ja auch Geiger.

Man muss den Text anders lesen. Wenn Sibelius sagt: ‚Bitte auf der G-Saite stehen bleiben’, dann kann ich das ernst nehmen. Wenn Schumann das schreiben würde, dann denke ich schon nach, was er wollte. Beispiel: Im dritten Satz seiner 2. Violinsonate schreibt Schumann: am Steg spielen. Ich hatte ständige Diskussionen mit Christoph Eschenbach, weil er absolut davon überzeugt ist, dass diese Stelle am Steg gespielt werden muss. Ich bin total dagegen; ich glaube Schumann wollte hier eine fahle Klangfarbe, die aus der Ferne kommt. Und die ergibt sich eben nicht bei ‚sul ponticelli’. Da klingt es nur eisig, scharf und unschön. Der Klang passt auch nicht zur Klavierbegleitung. Und deshalb habe ich immer am Griffbrett gespielt. Ende der Diskussion. Jahre später fand ich in einem Buch von Carl Flesch über die Kunst des Violinspiels eine Passage, in der Flesch sich darüber aufregte, dass alle Geiger diese Stelle am Steg, also ‚sul ponticelli’ spielen. Ich habe mich sehr amüsiert. Man muss wissen, welchen Hintergrund ein Komponist hatte. Das Violinkonzert von Schumann klingt wirklich doof auf der Geige; ich habe das Ganze am Klavier gespielt, da klingt es fantastisch mit Ausnahme vielleicht der zwei ersten Zeilen. Es ist alles pianistisch gedacht.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Ich möchte so weitermachen wie bisher. Es gibt Leute, die mir genau sagen wollen, welche Kleider, welche Frisuren ich tragen und was ich Journalisten antworten soll. Zuhause wird mir das wieder verboten. Ich kann mit einer Fehlentscheidung leben, wenn es meine Entscheidung war. Wenn die aber von jemand anderem getroffen wurde, dann verzeihe ich mir das nicht. Das Schwerste ist für mich zu sehen, wie viele Leute, die mit mir in diesem Beruf angefangen haben, zugrunde gehen. Da fehlt oft die Bodenhaftung, der Bezug zur Realität. Den habe ich.


Quelle: Kammerorchester Basel, 'tonaufton' 02, Saison 2006/07




Bild
 Mannheim, Nationaltheater
© Hans-Jörg Michel



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