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 CD     
  Sharp, Elliott 
Racing Hearts / Tessalation Row / Calling

Elliott Sharp gehört zu den markantesten Persönlichkeiten der New Yorker Downtown-Szene. Der vielfältig engagierte Multi-Instrumentalist, Komponist und Produzent verbindet in seiner Musik einen hohen kompositorischen Anspruch mit energiegeladenen, pulsierenden Rhythmen und atemberaubenden Klangeffekten.


Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt
Peter Rundel
| LEITUNG
Ensemble Modern
Kasper de Roo
| LEITUNG


Auszeichnungen:
  • Bestenliste – Preis der deutschen Schallplattenkritik, I/2004
  • Supersonic Award – pizzicato, 02/2004

Racing Hearts
für Orchester

Tessalation Row
für Streichquintett

Calling
für Orchester


Seine ersten beiden Kompositionen für Sinfonieorchester sowie ein profiliertes Stück für Streichquintett stellt diese CD vor.

Die Vielfalt seiner Aktivitäten ist unübersehbar, die Zahl seiner musikalischen Werke wird er selbst nicht kennen. Allein die Sharp-Diskografie von Patrice Roussel enthält fast 190 Einträge! Die Konzerte, Tourneen mit eigenen Formationen, anderen Gruppen, Duos mit Musikern aller Erdteile und seine Solotourneen versucht Elliott Sharp wenigstens seit 1998 in Road Reports zu protokollieren, die auf seiner Website nachzulesen sind. Damit ist das erste Problem beschrieben, wenn man sich Sharp und seiner Arbeit nähern will. Das zweite Problem besteht darin, die Musik zu kennzeichnen, mit der er sich bekannt gemacht hat. Selbst amerikanische Journalisten, die für musikalische Fachblätter oder für die New York Times gewöhnlich einfache Etiketten für schwierige Sachverhalte finden, rätseln in ihren Porträts: Ist das Jazz oder Rock? Keines von beiden. Komponiert oder improvisiert? Wohl beides. Abstrakter Vollzug mathematischer Prinzipien oder Schwarze Messe? Das hängt vom Hörvermögen ab.

Sharps Musik baut zumeist auf naturwissenschaftlichen Gesetzen auf. »Musik ist einfach angewandte Physik«, erklärt er, und das bedeutet in den meisten Fällen, dass in seinen strukturell entworfenen Konzepten die Proportionen nach der Fibonacci-Reihe geordnet sind, ja dass sogar die Saitenstimmung seiner Gitarre dieser Reihe untergeordnet ist, dass Verlaufsformen seiner Kompositionen der Fraktalgeometrie Benoit Mandelbrots folgen, dass also, was erklingt, nicht den herkömmlichen Songstrukturen, aber auch nicht den Traditionen der klassischen Überlieferung entspricht. Kurz: Seine Musik ist auch in der Downtown-Avantgarde – gelinde gesagt – unüblich. Die Neigung, musikalische Verläufe algorithmisch zu organisieren, aus »magischen« Modultabellen durchaus energetische Musik zu synthetisieren, führt sehr nah an die Grundbedeutung des »Komponierens«. Tatsächlich erinnert seine Arbeitsweise an die Larry Polanskys, James Tenneys oder Iannis Xenakis', die das Musikalische naturwissenschaftlich-mathematischen Phänomenen abgewannen.

Aber den Gefilden der akademischen Musik ist die agitierende Klanglichkeit Sharps nicht zugänglich. Und so findet man an jedem Aspekt dieses Künstlers etwas, das der öffentlichen Meinung unpassend erscheint: Ein gebildeter Musiker der Downtown-Avantgarde New Yorks, der öffentlich gegen die Politik seines Landes opponiert; ein Jude, der sich für die arabisch-jüdische Koexistenz einsetzt; ein Workaholic, dessen beeindruckende Lebensleistung ohne die Rituale des Showbusiness entsteht; der als Produzent umfassend die Szene der experimentellen Musik fördert, ohne sie zu majorisieren; ein schnell und effizient arbeitender Organisator, der von den Medien dämonisiert wird; der als überzeugter New Yorker (»Wo sonst kann man morgens um 2 Uhr gutes koreanisches Essen bekommen?«) Kontakt zu ethnischen Musikern rund um den Globus sucht; der mit elaborierten Kompositionsverfahren, und das bedeutet, mit seiner sperrigen, rätselhaften Musik nirgendwo »szenetauglich« ist.

Racing Hearts war ursprünglich ein Ensemblestück. Die Umarbeitung der von Hoketus und Obertontransformationen geprägten Komposition für großes Sinfonieorchester kam einer Neufassung gleich: Orchestermusiker spielen nicht aus einem algorithmischen Konzept. Jede Stimme musste also in traditioneller Notation ausgeschrieben werden. Dabei waren die spieltechnischen Grenzen, aber auch die ganz anderen Ausdrucksmöglichkeiten des Orchesters zu berücksichtigten. Die Orchesterproben waren dann eine Überraschung. Nichts musste »technisch« gestaltet werden, alles klang in allen Details durchgehört. Die rhythmischen Patterns und die mehrschichtig angelegten Spielfiguren mit ihren Überlappungen und ihren geschickt kalkulierten, starken Klangwirkungen kamen unerwartet miteinander ins artifizielle Gespräch …

Das zweite Stück der CD, Tessalation Row, wird vom Ensemble Modern gespielt. Sein Titel spielt mit dem Begriff »Tesselation«, einem mathematischen Verfahren zur Errechnung von Mustern ineinandergreifender Figuren. Das ganze Stück beruht auf Fibonacci-Reihen, die Stimmungen, Rhythmen und Formen generieren. Die Folge der Strukturvariationen ist höchst einfallsreich, die Anschlüsse sind elegant und das Ganze ist auch – amüsant! »In diesem Stück«, schreibt Sharp, »ging es mir um Identität: Im Detail wird es von Aufführung zu Aufführung sehr unterschiedlich ausfallen, doch die wiedererkennbaren Charakteristika werden immer konstant bleiben.«

2000 bis 2001 komponierte Sharp im Auftrag des hr das Orchesterstück Calling. Der Anschlag auf die Twin Towers am 11. September fand in seiner Sichtweite statt. »Meine Kunst«, sagte er später in einem Interview, »steht immer im Zusammenhang mit dem, was in der Welt passiert. Insofern fließen auch die weltpolitischen Ereignisse und Stimmungslagen in die Musik ein.« Im April 2002 brachte Sharp die Partitur und alle Orchesterstimmen nach Frankfurt: Ein starker, wechselnder Puls durchzieht das knapp halbstündige Stück. Die in der zeitgenössischen Orchestermusik ungewöhnlichen energetischen Schübe, die in Calling einer musikalisch sensiblen Konzeption unterworfen sind, münden in ein langes Finale, dessen unabschließbare Schlüsse wie Donnerschläge eines Gewitters wirken, das wir selbst heraufbeschworen haben. Es entsteht der Eindruck, dass da etwas Unerklärliches und Unauflösbares bleibt und dass Elliott Sharp gerade erst einmal angefangen hat …

Bernd Leukert


Rezensionen

»Gargantuahafte Großzügigkeit bei der Klangproduktion«
Kaum hat Elliot Sharp mit seiner langjährigen Kollegin Zeena Parkins an der Bonner Oper eine Mörderballade hingelegt, die das kammermusikalische Reservoir dieses Allround-Musikers dokumentierte, gibt es jetzt den Sinfoniker Sharp in vollem Umfang. Und natürlich ohne Jazz oder sonstigen doppelten Boden, auf den man sich immer wieder zurückziehen könnte, wenn es einem zu turbulent, zu angestochen wird. Aber Sharp ist eben als Komponist ein exakter Arbeiter, der immerhin bei Morton Feldman zunächst in die lehre gegangen ist, um dann von ihm verstoßen zu werden – als Sharp die Minimalismus-Dogmatik gegen die Improvisation eintauschte. Beides, die Versiertheit bis ins rhythmische Feine hinein und die fast gargantuahafte Großzügigkeit bei der Klangproduktion, sind die Schlagadern der zwei Orchesterstücke, die zwischen 1986 und 2001 entstanden. Während »Racing Hearts« schon fast als radikale Parodie auf die Kettenbildungen der Steve Reichs & Philip Glass' zu hören ist, entwickelt Sharp in »Calling« eine bedrängende Stimmung, die aus der Trauer über den 11. September entstand. Glücklicherweise fehlt dem Stück aber die amerikanische Mitleidstour, sondern es entwickelt sich aus dem Geiste von Charles Ives in ein aufziehendes Klanggewitter, das gewaltige Energien entlädt. Das ist aber noch nicht mal so bruitistisch, so exzessiv, wie Sharp in »Tessalation Row« ein Streichquintett auf eine strukturvernichtende Achterbahn schickt, auf der sich selbst György Ligeti fürchten würde.
Guido Fischer, Jazzthetik, 11/03

»Atemberaubende Sogwirkung«

Wir kennen Elliott Sharp als umtriebigen New Yorker Workaholic, als elektrischen Gitarristen und Klangschöpfer in der Avantgarde der Neunziger Jahre. Von bürgerlichen Formen der Musikerzeugung und -vermittlung distanzierte Sharp sich früh, brach die Lehrer-Schüler-Hierarchie der klassischen musikalischen Unterweisung auf –, denn nur so konnte seiner Meinung nach die Forschung nach eigenen Inspirationsquellen beginnen. Vor allem in den Naturwissenschaften wurde er fündig und entdeckte in vielen seiner Werke die ästhetische Potenz von mathematischen Prinzipien und physikalischen Gesetzmäßigkeiten – Iannis Xenakis lässt hier grüßen.
Eine neue CD-Produktion des Hessischen Rundfunks stellt den New Yorker Ausnahme-Musiker in ihren Mittelpunkt und zeugt davon, wie der einstige Morton-Feldman-Schüler die Früchte seiner Forschungsprozesse einem Klangkörper mit real existierenden Musikern und natürlichen Instrumenten zuführt. Unter Leitung von Peter Rundel widmet sich das hr-Sinfonieorchester und das Ensemble Modern unter Leitung von Kasper de Roo einer Musik, die für Sharp vor allem angewandte Physik ist und bleibt. Drei Kompositionen aus strengen logischen Prinzipien entfalten eine überbordende, zum Teil wuchtig-motorische Klanglichkeit.
Alles wirkt so, als hätten sich hier »klassische« Musiker sehr frei und unbefangen gefühlt im Umgang mit der Avantgarde. Überraschend kurz blieb die Aufnahmezeit, in der die Stücke eingespielt wurden – auch das zeugt von hellhöriger Spontaneität, vom Spaß an der Sache. »Racing Hearts« und »Calling« setzen aufs sinfonische Großformat, bei dem das hr-Orchester alles aufbietet, was an grellem Farbenreichtum und atemberaubender dynamischer Sogwirkung möglich ist. Die Musiker holen dabei so manche beklemmende Tiefenschicht aus Sharps zerrissener Klangarchitektur an die brausende Oberfläche mit ihren pochenden Motivwiederholungen, scharfen Bläserlinien, drohenden Klavierclustern und extremen Crescendi.
Das Ensemble Modern zeichnet für das radikalste Stück auf dieser CD verantwortlich. Offensichtlich beziehungsweise deutlich hörbar bleibt, dass diesem, auf Neue Musik spezialisierten Klangkörper – natürlich – noch ganz andere Möglichkeiten gegeben sind, um einer ganz speziellen Idee ihr unverwechselbares Gepräge zu verleihen.
Viele der unterschiedlichsten und gewagtesten Klangereignisse, die in der Neuen Musik Geschichte machten, wären ohne dieses Frankfurter Ensemble nicht denkbar gewesen – auf dieser CD nun lassen Streicher im Stück »Tessalation Row« einen alles verschlingenden Noise-Orkan toben, erzeugt durch rasendes Tremolo und Flagolettes in einem irritierenden, zum Geräuschteppich werdenden Obertonlabyrinth. Die Grundidee könnte minimalistischer nicht sein: Es ist nur auf leeren Saiten zu spielen, diese müssen aber nach einem speziellen Zahlenverhältnis gestimmt sein. Also doch kein Zufall!
Stefan Pieper, neue musikzeitung, 12/2003 / 01/2004

»Energetisch und vielseitig«

Der Multiinstrumentalist und Kompo-nist Elliott Sharp gehört zu den interessan-testen Figuren der New Yorker Downtown--Szene. In den achtziger Jahren repräsentierte er mit Musikern wie John Lurie und John Zorn eine eigenständige Avantgarde-Szene, die sich im Grenzgebiet von Jazz, Rock und Neuer Musik bewegte. Jetzt hat Sharp seine ersten Orchesterwerke vorgelegt. Es ist eine stark energetische und klanglich vielseitige Musik. Sharp hat ein untrügliches Gefühl für dramaturgische Abläufe, so dass auch das halbstündige »Calling« keineswegs lang wirkt. Peter Rundel am Pult des Radio--Sinfonie-Orchesters Frankfurt verhilft den Werken zu einer eindringlichen und klang-lich fulminanten Gestaltung.
M.D., Fono Forum 02/2004

»Im Stehen Sharp hören«
Es ist kein Oscar und auch kein Grammy, aber dennoch eine Auszeichnung von allerhand Aussagekraft: Auf der »Bestenliste der deutschen Schallplattenkritik« für das laufende Quartal steht unter der Rubrik »Zeitgenössische Musik« eine CD, bei der das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt und das Ensemble Modern dem New Yorker Komponisten und Avantgardisten Elliott Sharp eine Plattform geboten haben – und diese Plattform ist alles andere als ein lauschiges Fleckchen. Man nennt Elliott Sharp auch die »Ikone der Downtown-Exzentrizität« oder einen »Underground-Nosferatu«, wobei man sich unter letzterer Metapher sogar noch etwas vorstellen kann, in optischer Verbindung mit Sharps markanter Physiognomie wahrscheinlich sogar das, was, gemeint war. Zwei Orchesterwerke – die ersten übrigens, die Sharp je in Angriff genommen hatte – umklammern diese ausgezeichnete CD, in der Mitte ein Ensemblestück. Das heißt Tessalation Row, wird von fünf Streichern des Ensemble Modern fulminant dahergefegt und übertrifft die beiden groß besetzten Werke noch an direkter Radikalität. Aber auch bei Racing Hearts und Calling, die das RSO Frankfurt unter Peter Rundel alles andere als vorsichtig-distanziert angeht, machen deutlich, wes Kind Elliott Sharp ist: Halb ist er ein Frank Zappa, der unendlich viel Kraft und visionäre Klangvorstellungen zu haben scheint und sich nicht scheut, über der Avantgarde immer wieder die Sonne der schönen Melodie aufgehen zu lassen; halb ist er ein Iannis Xenakis, der die Musik wie nach einem Rechenprogramm konstruiert. Fibonacci-Reihen, Mandelbrot-Fraktale und sein Dogma, Musik sei »lediglich angewandte Physik«, steuern die Vokabeln seiner musikalischen Programmiersprache bei. Sharps Lehrer Morton Feldman hatte sich einmal über seinen eigenköpfigen, immer hoch politisch agierenden Zögling beschwert: »Musik sollte in roten Plüschsesseln gehört werden, aber bei Ihrer Musik muss man auf dem Boden sitzen.« Diese CD allerdings hört man erst einmal im sprungbereiten Stehen – sich zu setzen kann man dabei leicht vergessen.
Ick, Frankfurter Rundschau, 3.3.2004

»Die kleinen Wunder des Elliott Sharp«

Wow!! Welche Musik! Im Einleitungstext von Bernd Leukert wird deutlich, welches Multitalent der 1951 geborene amerikanische Komponist Elliott Sharp ist. Ob als New Yorker Underground-Musiker, als politisch engagierter Song-Performer, als Rock- und Bluesband-Mitglied, Gitarrist und World-Musiker, Sharp verschließt sich keiner Mu-sikrichtung und so verwundert es nicht, dass er auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik etwas zu sagen hat. Die drei hier versammelten Werke, beweisen ganz deutlich, dass Elliott Sharp ein intelligenter Komponist ist, der zwar, wie die meisten amerikanischen Musiker, einen sehr leichten und einfachen Zugang zu der Avantgarde findet und sie auch auf dieser Ebene zu vermitteln weiß. Man spürt aber in jedem Takt, dass diese Werke nicht nur im Bauch, sondern auch im Kopf entstanden sind. Trotzdem, es ist keine intellektuelle Musik an sich, kann es aber sein; sie versteht es vielmehr, den Hörer direkt zu berühren und ihn in ein Universum nie gehörter Töne und Klänge mitzunehmen. Durch die Faszination, die Sharps Musik ab dem ersten Takt ausstrahlt, wird der Hörer sofort in das musika-lische Geschehen mit eingebun-den und mit den Wahrheiten und Empfindungen des Komponisten konfrontiert. Sind diese Werke an sich schon kleine Wunder, so wird das musikalische Glück durch die Interpretationen des Radio-Sinfonie-Orchesters Frankfurt und das Ensemble Modern vollkommen. Sowohl Peter Rundel wie auch Kasper de Roo bieten fantastische Interpretationen, die es dem Hörer ermöglichen, sich ganz in die Musik fallen zu Lassen und wirklich neue, außergewöhnliche Musik hautnah mitzuerleben. Ein absolutes Must und ohne Zweifel eine der wichtigsten zeitgenössischen Produktionen der letzten Jahre.
Steff, pizzicato, 02/2004

»Widerspruch durch sich selbst«
Elliott Sharps musikalisches Grundtheorem ist falsch: Musik ist nicht nur angewandte Physik. Jahrelang hat der überzeugte New Yorker seine Kompositionen anhand mathematischer und naturwissenschaftlicher Formeln aufgebaut, Instrumente nach den selben Prinzipien gestimmt, welche auch mandelbrotsche Fraktalstrukturen entstehen lassen und Arrangements ausgerichtet wie vibrierende Energiesysteme. Dabei fand dieser philosophische Unterbau nicht nur Anwendung in seinen orchestralen Werken der »Neuen Musik«, sondern ebenso bei den regelmäßigen polyrhythmischen Exkursionen seiner JazzRock-Band Carbon. Dass ihn dies zu einem unliebsam beäugten Nischendasein verurteilt habe, zu Isolation und zu ständiger Kritik von allen Seiten ist ein schönes Märchen, welches auch der eigentlich mehr als gelungene Text in dem wie bei allen hr-Musik Ausgaben ansprechend gestalteten und vorbildlich aufbereiteten Booklet zu dieser CD wieder unnötigerweise aufwärmt. Ein Märchen zum einen, weil bereits der stets ausgebuchte Kalender des Elliott Sharp, den man im Internet auf dessen persönlicher Seite in den unterhaltsamen und spannenden »Road Reports« nachlesen kann, darauf hindeutet, dass dieser Mann auf der ganzen Welt ein vielgefragter und gern gesehener Gast ist. Zum anderen, weil es ihm nie schwer gefallen ist, auch unter bekannten Musikern Freunde zu machen und Geistesverwandte zu finden. Zwei Namen in diesem Zusammenhang: John Zorn und Bill Laswell. Von Zorn hat er das Kompromisslose und Konsequente, von Laswell das Umtriebene, Rastlose. Liest man dann noch von seiner kleinen, im übrigen als inspirierend empfunden, Fehde mit Morton Feldmann, bei dem er kurze Zeit studierte, erwartet man bei diesem Album nichts anderes als eine akustische Provokation.
Dass es ganz anders kommt, liegt vor allem an einer weiteren bedeutenden Triebfeder des Sharp'schen Kosmos, der »Intention« des Komponisten, dem absoluten Willen und der unbedingten Realisierung völlig individueller Vorstellungen: Obwohl jedes der drei hier enthaltenen Stücke eindeutige Referenzen an bestehende Strömungen, Tendenzen und Wirkungskreise aufweist, liegt der Ursprung dieser Übereinkünfte nicht in der Absicht ihres Schöpfers. Es gibt atonale Passagen genauso wie schier endloses rhythmisches Stakkato auf einem Ton, Streicherflagioletts und Kakophonie, Melodie und Stille, doch niemals verdichten sich die Elemente zu einer zuordenbaren Melange, stets bleibt da ein Hauch von Ungewissheit, ein Moment der inneren Zerrissenheit und Spannung, nicht im Sinne eines Flickenteppichs, sondern einer situativen Eruierung der bestmöglichen musikalischen Option. Was dann erstaunlich zugänglich klingt und gar nicht so radikal, wie man erhofft oder befürchtet hätte. Bei »Racing Hearts« plappern die einzeln Instrumentalsektionen munter durcheinander, senden sich gegenseitig kodierte Botschaften zu, nur um immer wieder von überwältigend dröhnenden Orchester-Fortes unterbrochen zu werden. Obwohl das Tempo hoch liegt, dürfte sich der Titel vornehmlich auf das Gemüt der Hörer beziehen, denn diese energische Komposition ist nicht nur einfach anregend, sondern durchaus nervenaufreibend. »Tessalation Row« bedient sich formal Sharps geliebter Fibonacci-Reihe (0,1,1,2,3,5,8,13…), hyperventilierende Streicher begeben sich auf einen waghalsigen Drahtseilakt, während die treibende Kraft aus den tiefen Registern kommt und ein sicheres Fangseil von tief murmelnden Bassfiguren aufgespannt wird, welche sich in einem eingeschränkten tonalen Umfang zu immer neuen Anordnungen zusammenfügen. Das Ergebnis ist weniger amüsant (wie es Bernd Leukert im Begleittext formuliert) denn angespannt und in einem ständigen Zustand potentieller Entladung begriffen. Das Auftragswerk »Calling« schließlich, mit Jahrgang 2001 das jüngste der Sammlung, gewinnt seine Kraft aus einem hämmernden, ohrenscheinlich streckenweise direkt an den Saiten angeschlagenen Klavier, brachialen Klangflächen und kurzen, perkussiv-pulsierenden Einlagen. Impulsive Emotionalität zuweilen, fast filmische Dramatik allerorten.
Humor findet dabei eher außerhalb der Stücke statt. Mit deutlicher, doch überhaupt nicht bitterer Genugtuung munkelt Sharp, Feldman, der ihm noch eine zu starke Sozialisation in der Musik vorgeworfen hatte, müsse sich doch angesichts der Tatsache, dass ein Publikum »auf roten Plüschsesseln« seinen Werken lausche, im Grabe umdrehen. Dass Musik indes nicht nur angewandte Physik ist, dass beweisen diese Titel kraft ihrer völlig undogmatischen und emotionalen Lebendigkeit selbst. Was aber durchaus kein Problem darstellen muss. Ganz im Gegenteil: Daraus gewinnen sie ihre Kraft!
tocafi, klassik.com, 8.3.2004

»Raus aus den Plüschsesseln«
Der mit drei Kompositionen porträtierte Amerikaner Elliott Sharp repräsentiert die quirlige Turbolenz der New Yorker Downtown. Der 1951 in Buffalo Geborene hat sich zunächst nach jugendlichem Überstress wissenschaftlich orientiert, doch die ihm während des Studiums von den Eltern geschenkte E-Gitarre hat die musikalischen Kräfte reaktiviert. Sharp öffnet sich sowohl den Klangwelten von Cage, Stockhausen und Xenakis als auch den Sphären von Improvisation und Jazz. Er engagiert sich politisch und hat etwa wie Frederic Rzewski auf den von der Polizei blutig niedergeschlagenen Aufstand im Gefängnis von Attica reagiert. Sharps Lehrer Morton Feldman war darüber ebenso wenig erbaut wie über die Hinwendung zur Improvisation und beschied den Jüngeren mit den Worten »Musik sollte in roten Plüschsesseln gehört werden, aber bei Ihrer Musik muss ma auf denn Boden sitzen.« – Mit diesem Kommentar hat Feldman Elliott Sharps künstlerisches Wesen vortrefflich charakterisiert. Sharps Musik bindet sich an den Boden der Realität und gewinnt aus der Bodenhaftung ihre von Bernd Leukert im Booklet benannte »agitierende Klanglichkeit«. Es ist unmöglich, Sharps Musik mit geschlossenen Augen zu hören und dabei im Nirwana zu entschwinden. Sie springt ins Gesicht, gleich ob in orchestraler Form oder wie im Mittelteil der vorliegenden Compact Disc in flirrender Obertonerkundung des Streichquintetts, »Tessalation Road«.. Letzteres leitet seinen Titel aus der mathestatischen Tessalation, einem Verfahren zur Errechnung von Mustern ineinandergreifender Figuren ab und wird vorn Ensemble Modern unter Kasper de Roo hinreißend musiziert.

Mag Musik für Elliott Sharp auch »angewandte Physik« sein, so erzeugt sie mit vitalem Pulsieren, grellen Bläserlinien und lange crescendierenden Clustern eine ungeheure Sogwirkung. Das von Peter Rundel dirigierte RSO Frankfurt hat sich auf diese eingelassen. Sowohl »Racing Hearts« in dir vom ursprünglichen Ensemblestück ins Orchestrale überführten Version als auch das als Auftragswerk bestellte und zeitgleich zum Anschlag auf das World Trade Center entstandene knapp halbstündige »Calling« wurden in extrem kurzer Zeit eingespielt. Das erweist sich jedoch nur als Vorzug, denn die von enormer Spannweite des Ausdrucks zehrende und zwischen Unruhe und scheinbarer Ruhe versteckte Spontaneität ist ein Gütesigel für den Komponisten und das Orchester, das mit dieser vom »Preis der deutschen Schallplattenkritik« auf der Bestenliste platzierten Produktion eine erstklassige Visitenkarte geliefert hat. Sie sollte nicht in Plüschsesseln gehört werden.
Ludolf Baucke, MusikTexte, 5/2004


hr-musik
Best.-Nr.: hrmn 018-03
15,00 €

Weitere Informationen: www-hr-musik.de.




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 Liberec (Reichenberg), F. X. Å alda Theater (Hist.)
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